Chronos – oft als geflügelter, alter Mann mit Sense dargestellt – ist kein antiker Zeitgott, sondern eine neuzeitliche Allegorie. Der eigentliche Zeitgott der griechischen Mythologie war der Titan Kronos. Erst durch kulturelle Umdeutungen und künstlerische Darstellungen ab der Renaissance verschmolzen beide Figuren zur Symbolgestalt «Gevatter Zeit».
Wo genau liegt nun der Unterschied?
Wenn wir Gemälde oder Skulpturen von Chronos betrachten, sehen wir oft einen bärtigen alten Mann mit Flügeln und einer Sense, manchmal auch mit einer Sanduhr. Wir erkennen ihn als Gevatter Zeit und erinnern uns an die griechische Mythologie. Doch genau hier beginnt das Missverständnis. Chronos ist eine philosophische oder allegorisch-ikonographische Darstellung der Zeit und nicht, wie oft angenommen, der Gott der Zeit. Als Gott oder gottähnliches Wesen gab und gibt es in der griechischen Mythologie nur den Titanen Kronos.
Chronos und Kronos sind zwei verschiedene Figuren, die aber oft – vor allem in späteren Quellen – miteinander vermischt oder verwechselt wurden.
1. Kronos (Cronus) – der Titan:
- Sohn von Uranos (Himmel) und Gaia (Erde)
- Vater von Zeus, Hades, Poseidon, Hera, Demeter und Hestia
- Symbolisiert eher die destruktive, zyklische Natur der Zeit (Alter, Vergehen)
- Stürzte seinen Vater Uranos und wurde später selbst von Zeus gestürzt
2. Chronos (Χρόνος) – die Personifikation der Zeit:
- Kein ursprünglicher Bestandteil der klassischen griechischen Mythologie (wie sie bei Homer oder Hesiod vorkommt)
- Abstrakte Gottheit oder Allegorie der Zeit selbst (chronos = griech. «Zeit»)
- Oft als uralter, bärtiger Mann dargestellt (daher auch der Ursprung für «Father Time»)
- In späteren, vor allem philosophischen oder allegorischen Traditionen (z. B. bei den Orphikern oder Neoplatonikern) tritt Chronos als Prinzip der unaufhaltsam fortschreitenden Zeit auf – eher kosmisch und abstrakt
Wann wurde Kronos zu Chronos?
Chronos erscheint als geflügelter, alter Mann mit Sense und Sanduhr erstmals in der spätantiken, aber besonders in der Renaissance- und Barockkunst im 15.-17. Jahrhundert.
Ab dem 3. Jahrhundert vor Christus beginnen in der hellenistischen und römischen Zeit die ersten Verschmelzungen von Chronos und Kronos. Vor allem die Idee der Zeit als allesverschlingende Macht tritt hier in den Vordergrund. Sie stammt aus dem Repertoire von Kronos, der als Titan alle seine Kinder ausser Zeus gefressen hat. So gesehen frisst die Zeit auch alles auf.
In der Spätantike und im Mittelalter tritt die Personifikation der Zeit gelegentlich in allegorischen Texten auf, hat aber noch keine konsistente bildliche Darstellung. Sie erhält aber ab und an eine mittelalterliche Symbolik.
Erst durch die Renaissance ab dem 15. Jahrhundert und die Wiederentdeckung antiker Konzepte durch Humanisten erhält Chronos seine allmähliche Gestalt. Sie systematisierten die Mythen und Allegorien aus der Antike, wodurch Verschmelzungen und Neudeutungen entstanden.
Chronos wird von hier an gerne als alter Mann mit Flügeln («Tempus fugit»), mit Sense (Tod, oft vermischt mit dem Sensenmann, aber ursprünglich Ernte) und mit der Sanduhr (Zeitmessung und Vergänglichkeit) dargestellt. Diese Darstellung ist aber nicht mythologisch, sondern ikonographisch/allegorisch zu lesen, ähnlich wie die Justitia mit Waage und Augenbinde.
So gesehen ist es nicht eine antike Chronos-Verehrung, sondern ein künstlerisches Konstrukt der Neuzeit, das zunehmend zur Figur des Gevatters Zeit (Engl. Father Time) wird.
Attribut | Bedeutung |
Flügel | Die Zeit fliegt dahin (Tempus Fugit). |
Sanduhr | Zeitmessung, Symbol für die Endlichkeit. |
Sense | Verbindung zum Tod – oft vermischt mit dem Tod selbst. Symbol der Erntezeit. |
Greisenalter | Symbol für Alter, Weisheit, aber auch Zerfall. |
Stundenglas & Rad | Zyklische oder lineare Zeitverläufe. |
Schlange an der Sense | Ouroboros symbolisiert die zyklische Natur von Leben, Tod und Wiedergeburt sowie die Einheit von Anfang und Ende, Schöpfung und Zerstörung. |
In der Neuzeit verschmilzt die Bildsprache immer mehr mit kulturellen Konzepten. Oft sprechen wir dann nicht mehr von einer religiösen oder mythologischen Figur mehr, sondern einem kulturellen Symbol (wie im angelsächsischen Raum: «Father Time» wird durch das «New Year’s Baby» abgelöst). Dazu wird er in sogenannten «Memento Mori»-Darstellungen zum Teil der Mahnung an die Vergänglichkeit. Hier wird wieder an die Symbolik gedacht, dass die Zeit alles verzehrt.
So gesehen ist die Figur des Chronos, wie wir sie heute kennen, kein Relikt aus der griechischen Antike, sondern ein Produkt der kulturellen Vorstellungskraft der Neuzeit. Sie vereint antike Mythen, philosophische Konzepte und künstlerische Symbolik zu einem Bild, das weniger mythologisch als vielmehr allegorisch verstanden werden muss. Was einst als Titan Kronos begann, wurde durch Jahrhunderte der Umdeutung zum Sinnbild der Zeit selbst – allgegenwärtig, unwiderruflich und letztlich vergänglich.


Literatur:
- Hans-K. & Susanne Lück, «Antike Mythologie: Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst.», Marix Verlag GmbH, Wiesbaden, 2005. S. 508-518. Abschnitt Kronos.
- Tardy, «La Pendule Française», 1ère Partie: Des origines au Louis XV. 1969. S. 79-127, Kapitel: La Pendule Religieuse.
- Reinier Plomp, «Early French Pendulum Clocks, 1658-1700, known as Pendules Religieuses.», Interbook International, Schiedam, 2009.